Digitale Theologie

Wie verändert kirchliche Praxis online das Kirchenverständnis?

Gottesdienst, Abendmahlsfeier, Gebetsgemeinschaft oder Seelsorge – wer danach suchte, konnte all das auch schon vor der Pandemie online finden. Doch kirchliche Praxis und Gemeinschaft im Netz waren eher die Ausnahme als die Regel. Zwischen kirchlichem, gemeindlichem Alltag und digitalen kirchlichen Formen war häufig eine Distanz spürbar.

Das Netz – für Kirche lange ein ferner Ort
Demgegenüber ist die theologische Forschung bereits seit Beginn dieses Jahrtausends auf das Verhältnis von Kirche und Netz eingegangen, kirchliche Positionspapiere kamen einige Zeit später hinzu. Doch diese Positionspapiere nahmen Kaum kirchliches Leben in der Digitalität in den Blick, sondern richteten ihr Augenmerk auf das Internet als Chance für die Kirche, kirchenfernen Menschen zu begegnen. Kirchliches Online-Engagement war hier vor allem als Teil von Öffentlichkeitsarbeit und Mission, der digitale Raum wird überwiegend nicht als Teil, sondern als Gegenüber des kirchlichen Lebens angesehen. Der Tübinger Theologe Gerald Kretzschmar spricht in diesem Zusammenhang von einer Aufspaltung (Diastase) zwischen Digitalem und Analogem[1]

Auch die 2021 erschienene EKD-Denkschrift „Freiheit digital“ blickt noch einmal vor allem die gesellschaftliche Mitverantwortung von Christinnen und Christen beim digitalen Wandel, nicht so sehr auf kirchliche Veränderungen.[2]

Die Pandemie als Türöffner
Die Pandemie wurde für viele kirchliche Akteur*innen zum Türöffner, um das Netz als kirchlichen, gemeinde- und lebensnahen Ort mehr als bisher zu entdecken und zu nutzen.

In dieser Zeit der Kontaktbeschränkung haben Gemeinden viel Initiative und Kreativität gezeigt, um mit den Menschen in ihren Gemeinden in Verbindung zu bleiben. Umschläge mit Predigten oder kleinen Andachten zum Mitnehmen, mit Wäscheklammern aufgehängt am Zaun vor dem Kirchhof oder am Wäscheständer vor dem Supermarkt, Predigten, die auf einen Anrufbeantworter aufgesprochen und dort abgerufen werden konnten, knüpften an die Begegnungen vor Ort an.

Gleichzeitig zeigten sich die Chancen des Internets, das in vielen Haushalten längst Alltagsbegleiter ist. Gottesdienste und Andachten wurden auf Video aufgezeichnet und online gestellt oder per Webkonferenz, Livestream oder in einer Messengergruppe gemeinsam online gefeiert. Die ersten Schritte waren für die Pfarrerinnen und Pfarrer und ihr Team oft anstrengend, doch sie erhielten überwiegend gute Resonanz auf diese neuen Angebote. Das ermutigte, auch weiterhin Online-Gottesdienste und Online-Andachten, anzubieten.

Gottesdienste vor Ort und im Netz – ist die „hybride Kirche“ die Kirche der Zukunft?
Das Netz wird mehr als bisher ein Ort erfahren, wo Kirche auch stattfinden kann. Diesen Blickwechsel gab es sowohl bei Pfarrer*innen und Pfarrern[3] als auch bei den Gemeindegliedern, wie aktuelle Studien zeigen. Gemeindemitglieder sehen inzwischen den Gottesdienst im Netz nicht mehr lediglich als „Überbrückungshilfe“ für die Coronazeit an, sondern schätzen ihn als eigenständige Angebot – neben oder zusammen mit dem Gottesdienst im Kirchenraum. Mehr als zwei Drittel der Kirchengemeinden bieten aktuell weiterhin digitale Verkündigungsformate an, meist allerdings zeitversetzt, aufgezeichnet und auf YouTube: „Das neue Normal scheint im gottesdienstlichen Leben der analog-asynchrone Gottesdienst zu sein. Dabei profitiert der Präsenz-Gottesdienst von den guten Erfahrungen aus dem Digitalen. Kürzer, innovativer und partizipativer stellen sich die Gottesdienste inzwischen auf.“[4]

Digitale Möglichkeiten, Kirche zu sein, rücken also mehr ins Blickfeld und werden voraussichtlich zukünftiges kirchliches Leben stärker als bisher mitprägen und verändern. Verkündigung, Seelsorge und christliche Gemeinschaft vor Ort könnte sich mit Online-Angeboten verbinden, kirchliche Praxis könnte hybrid werden.

Das Netz schafft neue Formen kirchlicher Praxis, die auf das Kirchenverständnis zurückwirken
Denn schon lange zeigt sich: Das Netz bietet neue Chancen für das das von der Reformation zugrunde gelegte Priestertum aller Gläubigen und schafft neue Formen sowohl von Gemeinschaftlichkeit als auch von kirchlicher Praxis. Neue Formen der Beteiligung, der Partizipation, sind möglich und werden wiederum auf das Kirchenverständnis zurückwirken:

Kirche als Netzwerk?
„Das Begehren etwa, als Akteur/in an Aushandlungsprozessen über das, was gelten soll, partizipieren zu können, stellt Fragen an überkommene Auffassungen über den Zusammenhang von Amt, Tradition, Institution und Autoritä.“[5]
Die amerikanische Theologin Heide Campbell hat dabei auf die „community of practice“, also die im Prozess gemeinschaftlichen Handels statt durch bestehende Strukturen sich bildende Gemeinschaft der Gläubigen, als wesentliches Element kirchlichen Lebens im Netz hingewiesen. So entsteht ein neues Bild von Kirche, abseits von Organisation, Institution oder Parochie: das Bild einer Kirche als Netzwerk.[6]

#DigitaleKirche und #digitaleEkklesiologie stehen in Austausch und Dialog
Aus alldem wir deutlich: Das Netz als einen Raum kirchlichen Lebens zu begreifen, hat Auswirkungen auf das Kirchenverständnis und Kirchenbilder, also auf die Ekklesiologie . Die theoretischen Überlegungen zum Kirchenverständnis ergänzen die Praxis kirchlichen Lebens im Netz, die #digitaleKirche, und beide stehen im Dialog zueinander.

Jahresprojekt 2020 der Akademie: #2komma42 – VerNETZt im Glauben
Diese Verbindung zwischen einer Bestandsaufnahme aus der Praxis und Reflexion darüber hat z.B. das Akademie-Projekt „#2komma42 – VerNETZt im Glauben“ versucht, das als Jahresprojekt für 2020 bereits seit längerem geplant war und dann gerade in die Zeit der Pandemie fiel und so noch einmal an Aktualität gewann.

Tagungsreihe: „Digital – parochial – global?!“
Ebenfalls seit 2020 lädt die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft zusammen mit der Evangelischen Akademie im Rheinland und der Evangelischen Akademie der Pfalz zu Tagungen und Workshops ein, die Fragen zur digitalen Ekklesiologie nachgehen: „Digital – parochial- global?!“. Hier in der Rubrik „digitale Theologie“ dieser Website und auf der Online-Zeitschrift Cursor sind Beiträge aus diesen Workshops dokumentiert. Eine Übersicht über den Forschungsstand bietet das 2020 erstellte Positionspapier „Präsent sein. Ekklesiologische Perspektiven auf das kirchliche Leben unter den Bedingungen des Infektionsschutzes und seiner Folgen“ von PD. Dr. Frederike van Oorschot.

Wo, wer oder was ist heute und in Zukunft Kirche?
In der Einleitung zur Reihe sind einige der Kernfragen formuliert, denen die in dieser Rubrik online gestellten Artikel und die Videos zum Thema in der Playlist „#digitaleKirche“ auf eair-diskurse aufgreifen:

„Leib Christi, Institution, Unternehmen, Verein, Netzwerk, Gemeinschaft der Heiligen – die Vorstellungen davon, was Kirche ist und was sie sein könnte, waren schon immer vielfältig, widersprüchlich und strittig. In der evangelischen Tradition ist Kirche dort, wo „das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden“ (aus der Bekenntnisschrift Confessio Augustana, 1530, VII).

Angesichts steigender kirchlicher Online-Aktivitäten und Netzwerke gerade angesichts der außerordentlichen Herausforderungen durch die pandemiebedingten Einschränkungen des analogen kirchlichen Lebens stellen sich viele Fragen neu und dringlicher: Wo, wer oder was ist eigentlich Kirche? Wo und wie wird gepredigt und werden die Sakramente gereicht? Wie verändert sich das religiöse Bewusstsein? Wie stehen die unterschiedlichen Formen von Offline- und Online-Kirche zueinander? Was verändert sich, wenn die „Zirkulation des religiösen Bewusstseins“ auch im digitalen Raum in Gang kommt? Was heißt „Priestertum aller Gläubigen“? Wie viel Professionalität, Ordnund und Hierarchie sind nötig?

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[1]   Gerald Kretzschmar: Digitale Kirche. Momentaufnahme und Impulse, Leipzig 2019, S. 126. Dabei nimmt er stellvertretend Bezug auf folgende Veröffentlichungen:
Das Netz sinnvoll nutzen – Die Internet-Strategie der ELKB (2012)
Kommunikation des Evangeliums in der digitalen Gesellschaft – Schwerpunktthema der EKD-Synode 2014
Bericht des Rates der EKD über den Prozess der „Kommunikation des Evangeliums in der digitalen Gesellschaft“, 2017
Die Digitale Roadmap der Evangelischen Landeskirche in Württemberg (2018) sowie den Digitalisierungs-Synodenbericht von Kirchenpräsident Volker Jung, Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (2018).
Alle Dokumente sind online recherchierbar und frei verfügbar.

[2] https://www.ekd.de/freiheit-digital-63984.htm . Vgl. hierzu auch die in Kooperation u.a. mit der Evangelischen Akademie im Rheinland durchgeführte und auf unserem YouTube-Kanal eair-diskurse dokumentierte Gesprächreihe https://youtube.com/playlist?list=PLf6qeXddIvX2R-tS7GLD6CqhfxOGALCiQ)

[3] Zwei wichtige Studien aus Sicht der Pfarrpersonen und Gemeinden: CONTOC-Studie (https://contoc.org/de/contoc/) und die Midi-Studie 2021 (https://www.mi-di.de/materialien/gottesdienstliches-leben-waehrend-der-pandemie ). Die Befragungsstudie „Rezipiententypologie evangelischer Gottesdienstbesucher*innen während und nach der Corona-Krise“ ((https://presse.ekir.de/presse/DF839B2CED9F47FB8C89C97FE962B1F4/aktuelle-studien-zeigen-kirche-ist-digitaler-geworden ) bietet die Sicht von Gottesdienstbesucher*innen.

[4] Aus dem Vorwort der epd-Dokumentation 39/2021, die die neue Midi-Studie sowie die Rezipientenstudie vorstellt (beide s. Anm. 2).
Zu den Ergebnissen der Rezipientenstudie 2021 s. auch:

Befragungs-Studie: Digitale Gottesdienste weiterhin stark gefragt

[5]  Kristin Merle: Kulturelle Adaptionen. Religiöse Rituale im Medienwandel, in: Alexander Deeg/Christian Lehnert (Hrsg.) Liturgie – Körper – Medien. Herausforderungen für den Gottesdienst in der digitalen Gesellschaft, Leipzig 2019, S. 82.

[6] Heidi A. Campbell/Stephen Garner, Networked Theology. Negotiating Faith in Digital Culture, Grand Rapids (MI) 2016, S. 64 ff (zitiert nach Anm. Xx) . Weitere Veröffentlichungen zum freien Download unter  https://www.drheidicampbell.com/e-resources . Vgl auch: https://cursor.pubpub.org/pub/cixgh2js/release/2

 

  • Bettina Förster (Studienleiterin Medien und Öffentlichkeitsbeauftragte)